Alltägliches
Gleichberechtigung für Deutsche

Vor Antritt der Fahrt muss in Berlin ein Fahrschein noch extra gestempelt werden, was man leicht vergisst oder gar nicht weiß.
Foto: Andreas Rentz/Getty Images
„You have to validate the ticket! (Sie müssen das Ticket abstempeln)“ sagte mir ein Fahrkartenkontrolleur in der Berliner U2 (Untergrundbahn) freundlich. Mir ist plötzlich eingefallen, dass ich vergessen hatte, die Fahrkarte abzustempeln, weil der Zug gerade abfahren sollte, als ich auf dem Bahnsteig ankam. In der Eile sprang ich in die Bahn. Die Tür ging gerade hinter mir zu. Natürlich konnte ich nicht an das Abstempeln denken.
Ich stieg mit dem Fahrkartenkontrolleur zusammen aus. Er zeigte mir, wo das Gerät für das Abstempeln ist. Neben mir stand ein Deutscher, der ebenfalls das Abstempeln vergessen hat. Er flehte den anderen Fahrkartenkontrolleur an: „Ich habe WIRKLICH vergessen, die Karte abzustempeln. Das war NICTH mit Absicht.“ Sein Gegenüber stand da, ohne Gesichtsausdruck, ohne auf ihn zu schauen, als ob er nichts gehört hätte. Der deutsche Fahrgast war verzweifelt.
Mir war plötzlich klar geworden, warum der Fahrkartenkontrolleur Englisch zu mir gesprochen hatte. Er hat mich als Touristin angesehen! Es fahren tatsächlich viele Touristen mit der U2, weil diese U-Bahnlinie die Stationen Zoologischer Garten, Friedrichstrasse und Alexanderplatz verbindet, von dort erreicht man die attraktivsten Sehenswürdigkeiten in Berlin. „Nichts wie weg, und zwar so schnell wie möglich“, dachte ich. Die zwei Fahrkartenkontrolleure sollten nicht merken, dass ich fließend Deutsch spreche.

Gleichberechtigung ist hier angesagt, dachte ich, für die Deutschen. Die Deutschen haben nie das Recht, zu behaupten, dass sie kein Deutsch verstehen. Aber die Ausländer schon. Eine koreanische Freundin von mir hat es satt mit den Verkäufern, die pausenlos an ihrer Tür klingeln und etwas verkaufen wollen. Aber ihr als freundlicher Koreanerin ist es nie gelungen, einen ebenso freundlichen, mindestens an der Oberfläche freundlichen Verkäufer auf eine direkte Art abzulehnen. So dachte sie sich etwas aus. Als sie wieder einen Verkäufer vor der Tür sah, sagte sie langsam und mit einem aufgesetzten Akzent: „Mein Mann, böse.“ Schnell machte sie die Tür zu. Tatsächlich lebt sie seit über 20 Jahren in Deutschland und ist sehr gut in der deutschen Gesellschaft integriert.
Nach ein paar Minuten kam der nächste Zug. Ich stieg ein und schaute mich um. Ich war hier unter lauter „Langnasen“. Das ist der bildhafte Ausdruck von uns in China für die langnasigen Ausländer. Mit leichtem Herzen sagte ich innerlich zu mir: „Ach, manchmal ist es gar nicht so schlecht, ein bisschen anders auszusehen als sie.“
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