Brasilien: Korruption überall und kein Nachfolger in Sicht
In fast jedem Land der Welt würde sich ein Präsident mit einer Zustimmungsquote von nur noch sieben Prozent in der Bevölkerung und belastet durch ernste Korruptionsvorwürfe durch die Justiz wohl kaum noch im Amt halten können. In Brasilien aber scheint Staatschef Michel Temer das Unmögliche zu schaffen. Dafür gibt es vier Hauptgründe:

Präsident Michel Temer am Freitag bei Feierlichkeiten zum Jahrestag einer Seeschlacht. Brasiliens Staatschef leibt trotz Unregelmäßigkeiten bei seiner letzten Wahlkampagne vorerst im Amt. Foto: Eraldo Peres/dpa
Foto: Eraldo Peres/dpa
Korruption in allen politischen Lagern
Der 76-jährige Temer ist der erste amtierende Präsident Brasiliens, der offiziell von der Generalstaatsanwaltschaft der Bestechlichkeit beschuldigt wird. Damit es zu einer Anklage vor dem Obersten Gerichtshof kommt, müssten zwei Drittel der Abgeordneten einem solchen Verfahren zustimmen.
Mit seiner Mehrheit im Parlament dürfte Temer eine solche Anklage abwenden können. Obendrein laufen gegen 185 der 513 Abgeordneten ebenfalls Ermittlungen der Justiz, gegen die meisten wegen Korruptionsverdachts. Viele Abgeordnete fürchten, dass ein Sturz Temers einen Domino-Effekt auslösen und sie selbst dann auch Amt und Privilegien verlieren könnten.
Kein klarer Nachfolger in Sicht
Als die linksgerichtete Präsidentin Dilma Rousseff wegen geschönter Haushaltszahlen abgesetzt wurde, war die Nachfolge im Mai 2016 durch ihren Vize Temer klar. Sollte nun der Konservative Temer sein Amt verlieren, gäbe es keinen Vize-Präsidenten mehr, der automatisch nachrücken könnte.
Im Falle eines solchen Machtvakuums sieht die brasilianische Verfassung vor, dass der Kongress binnen 30 Tagen einen Nachfolger wählen muss. Einen Konsenskandidaten scheint es freilich nicht zu geben.
Im ersten Monat würde übergangsweise Parlamentspräsident Rodrigo Maia von der konservativen Partei DEM die Funktion ausfüllen. Obwohl auch gegen ihn Korruptionsermittlungen laufen, wird ihm zugetraut, das Amt bis zur regulären Wahl im Oktober 2018 ausfüllen zu können. Viele in Brasilien halten aber schon jetzt vorgezogene Neuwahlen für die bessere Lösung.
Unterstützung des Wirtschafts- und Finanzsektors
Temer kann nach wie vor auf eine Unterstützung des Wirtschafts- und Finanzsektors zählen. Mit seinem rigiden Sparkurs und einer Reihe unpopulärer Reformen will er das in einer schweren Wirtschaftskrise steckende Brasilien wieder für Investoren attraktiv machen.
Das Einfrieren der öffentlichen Ausgaben für 20 Jahre konnte er bereits durchsetzen; auch wurde der lukrative Ölsektor für private Investoren geöffnet. Auf zwei seiner wichtigsten Reformprojekte wartet die Wirtschaft aber noch: die Arbeitsmarkt- und die Rentenreform.
Die politische Krise verzögert nun die Umsetzung der versprochenen Reformen. Nach Einschätzung des Politikanalysten Ricardo Ribeiro von MCM Consultores glaubt dennoch ein Teil der Wirtschaftsvertreter nach wie vor, dass Temer der Beste wäre, um die Reformen voranzutreiben.
Temers Koalitionspartner, die Mitte-Rechts-Partei PSDB, will ebenfalls die Umsetzung der Reformen, fürchtet vor den nächsten Wahlen aber den politischen Schaden durch ein Festhalten an Temer. Die Partei ist allerdings durch Ermittlungen der Justiz gegen Teile ihrer eigenen Führung geschwächt.
Schweigen auf den Straßen
Anders als während des Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff, als Millionen Brasilianer auf die Straßen gingen, ist der Protest gegen Temer bisher vergleichsweise gering – obwohl 65 Prozent der Brasilianer laut Umfragen seine Ablösung befürworten.
Doch die linksgerichtete Arbeiterpartei (PT) von Rousseff und Ex-Präsident Inácio Lula da Silva konnte die Unzufriedenheit in der Bevölkerung bisher nicht für sich nutzen, nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Verstrickung in die weitverzweigte Korruptionsaffäre um den brasilianischen Ölkonzern Petrobras. Die Gewerkschaften führten die bisher größte Demonstration am 28. Mai in Brasília an und haben auch für die kommenden Tagen zu Protesten aufgerufen. (afp)
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