
Bulgarien: Das erwartete Patt
Nur jeder Dritte ging bei der Parlamentswahl in Bulgarien wählen. Es ist ungewiss, ob überhaupt eine neue Regierung zustande kommt. Eine Analyse.

Der Vorsitzende der GERB-Partei und ehemalige bulgarische Premierminister Boyko Borissow.
Foto: NIKOLAY DOYCHINOV / AFP über Getty Images
Wie vorhergesagt ist die Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl am 2. Oktober in Bulgarien – es war die vierte in eineinhalb Jahren – erneut gefallen.Es ging von 40 auf rund 35 Prozent runter. Zum Vergleich: Die niedrigste Wahlbeteiligung im wiedervereinigten Deutschland waren 70,8 Prozent im Jahre 2009. Die geringe Wahlbeteiligung ist auch dem Umstand geschuldet, dass etwa jeder dritte wahlberechtigte Bulgare im Ausland lebt und es keine Briefwahl gibt.
Nach Auszählung nahezu aller Stimmen wird es, was den Ausgang der Wahl angeht, im Gegensatz zur letzten Wahl aber keine Überraschung geben. Damals sagten viele – genauso wie jetzt auch – „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB) als Wahlsieger voraus. Gewonnen hatte aber mit 25,7 Prozent die erst im September von den beiden Harvard-Absolventen Kiril Petkow und Assen Wassilew gegründete und auch als „Start-up-Partei“ bezeichnete „Wir setzen den Wandel fort“ (PP), was auf Bulgarisch aufgrund einer Alliteration („Prodŭlzhavame Promyanata“) griffiger klingt.
Ein isolierter Wahlsieger
Wahlsieger ist jetzt mit 25,3 Prozent der frühere Ministerpräsident Boiko Borissow. Im vergangenen Jahr hatte er noch erklärt, keine weitere Amtszeit als Ministerpräsident anzustreben. Seine Partei GERB steht der CDU nahe und gehört im EU-Parlament zur Europäischen Volkspartei (EVP). Insgesamt zehn Jahre lang war Borissow bereits Ministerpräsident in Bulgarien, zuletzt bis Mai vergangenen Jahres. Zum Vergleich: Angela Merkel war 16 Jahre lang Bundeskanzlerin.
Zuvor waren in Bulgarien über ein Jahr lang nahezu täglich Menschen gegen ihn und seine Regierung auf die Straße gegangen. Unter der letzten Regierung von Kiril Petkow wurde Borissow im März dieses Jahres wegen des Vorwurfs der Korruption festgenommen. Das war am Vorabend des Besuches des US-amerikanischen Verteidigungsministers Lloyd Austin in Sofia. Er wurde nach wenigen Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt.
Unter dem Wahlslogan „Stärker als das Chaos“ hatte GERB versprochen, die Inflation zu bekämpfen. Ebenso wollte die Partei weiterhin einem NATO- und EU-Kurs folgen und 2024 den Euro in Bulgarien einzuführen. Durch die anhaltenden Korruptionsvorwürfe, insbesondere gegen die Person Borissow, ist GERB aber isoliert. Demzufolge ist völlig unklar, mit wem die Partei koalieren könnte.
Als stärkste Fraktion wird GERB den ersten von drei möglichen Aufträgen, eine neue Regierung zu bilden, vom bulgarischen Präsidenten übertragen bekommen. Kommt es nicht dazu, geht die Macht an Präsident Rumen Radew zurück. So sieht es die Verfassung vor.
Bisher dankten Vertreter von GERB lediglich den Wählern für ihre Unterstützung. Borissow selbst erklärte sich offen für Gespräche mit allen Parteien. Zuvor hatte er allerdings die Zusammenarbeit mit der Partei der türkischen Minderheit (DPS) ausgeschlossen. Diese ist mit 13,8 Prozent drittstärkste politische Kraft und deren größte Wählerschaft befindet sich im Ausland.

Gewählt haben die Stimmberechtigten mittels moderner Technik. Es war die vierte Parlamentswahl innerhalb von 18 Monaten.
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Gewinne bei Partei gegen Einführung des Euros
Der vorherige Ministerpräsident Petkow gestand bereits seine Wahlniederlage ein. Seine PP hat zwar 5,5 Prozent verloren, aber mit immerhin noch 20,2 Prozent den zweiten Platz belegt. Er hat derzeit keine Chance, noch einmal zu regieren, auch weil er seinen Wählern versprochen hatte, keine Koalition mit GERB und DPS einzugehen. Seine bisherige Koalition aus Sozialisten (9,3 Prozent), Demokratisches Bulgarien (7,5 Prozent) und „Es gibt dieses Volk“ (3,8 Prozent) ist definitiv Geschichte. Letztere Partei des Sängers und Showmasters Slawi Trifonow, die wegen Uneinigkeit in der Mazedonien-Frage das verlorene Misstrauensvotum gegen Petkow ausgelöst hatte, wird nicht mehr ins Parlament einziehen.
Die meisten Zugewinne konnte die Partei „Wiedergeburt“ verzeichnen, deren Name auf die Zeit der Befreiung Bulgariens von türkischer Herrschaft zurückgeht. Sie konnte ihren Stimmenanteil mehr als verdoppeln und liegt jetzt bei 10,2 Prozent. Chef der Partei „Wiedergeburt“, die oft als „pro-russisch“ und „nationalistisch“ bezeichnet wird, ist Kostadin Kostadinow. Kostadinow ist gegen die Einführung des Euros, gegen jegliche militärische Unterstützung der Ukraine und für die Neutralität Bulgariens, für eine Mitgliedschaft Bulgariens in der Europäischen Freihandelsorganisation (EFTA) und für den Austritt seines Landes aus der EU und der NATO. Als Koalitionspartner kommt er für Borissow nicht infrage.
Dass es bei insgesamt sieben Parteien im Parlament bleibt, liegt an der neu gegründeten und sogleich mit 4,6 Prozent (die Hürde sind vier Prozent) in das bulgarische Parlament gewählten Partei „Bulgarischer Aufstieg“ des früheren Verteidigungsministers Stefan Janew. Der ehemalige Militär war auch schon einmal Ministerpräsident Bulgariens gewesen. Präsident Radew, ebenfalls ein ehemaliger Militär, hatte den Parteilosen im Mai 2021 zum Ministerpräsidenten ernannt, da die gewählten Parteien bereits nach der Wahl im April keine Regierung bilden konnten.
Eine Regierungsbildung in Bulgarien ist ungewiss
Da nahezu alle Parteien eine Zusammenarbeit mit GERB vor der Wahl ausgeschlossen haben, ist es ungewiss, ob eine neue Regierung zustande kommt. Eher wird mit erneuten Neuwahlen im Frühjahr gerechnet. Es wäre die fünfte Wahl in zwei Jahren in Bulgarien. Bis dahin würde die vom Präsidenten Radew Anfang August dieses Jahres ernannte Regierung weiter im Amt bleiben – eine ungewöhnliche Situation, da auch in Bulgarien der Präsident eigentlich eher eine repräsentative Aufgabe hat.
Eine Regierung aus Experten könnte einen Ausweg aus der Patt-Situation darstellen. Angesichts des Ukraine-Kriegs, der Energiekrise und der täglich steigenden Preise ist eine solche „Regierung der nationalen Rettung“ nicht mehr auszuschließen. Zuvor müsste die Regierung allerdings eine Art nationalen Notstand erklären.
Die Sorgen vieler Menschen im Land drehen sich gerade genau um diese Probleme. Vor allem ärmere Menschen – von ihnen gibt es im ärmsten Land der EU einige – befürchten, im Winter frieren zu müssen. Viele, insbesondere auf dem Land, haben sich schon Holzvorräte zugelegt und sind gerade mit Einmachen oder dem Anlegen von Vorräten beschäftigt. Etwa ein Drittel der Bulgaren lebt im Ausland.
Zum Autor
Rumen Milkow ist freier Journalist und Autor. Seit Mai 2021 lebt er permanent in Bulgarien. Geboren und aufgewachsen in Ostdeutschland ist er examinierter Krankenpfleger, Berliner Taxifahrer, Autor bei “Rubikon” und “Multipolar”, Radiomoderator a. D. („Hier spricht TaxiBerlin“), Blogger, „Eselflüsterer“ sowie Herausgeber („Nach Chicago und zurück“ und „Bai Ganju, der Rosenölhändler“ des bulgarischen Klassikers Aleko Konstantinow).
Dieser Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung der Epoch Times, Ausgabe 65 am 8. Oktober 2022.
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