Die Corona-Überwachungsfalle: Regierungen nutzen Pandemie zur Erweiterung ihrer Macht
Datenschützer, NGOs, aber auch Akademiker wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari warnen davor, dass die Corona-Pandemie zur Initialzündung zur Massenüberwachung wird. Corona-Apps seien nur ein Aspekt des Problems.

Gesichtserkennung im Einsatz bei COVID-19-Kontrollen. Symbolbild.
Foto: iStock
In einem Interview mit der „Welt“ hat der linke israelische Historiker Yuval Noah Harari vor einer umfassenden Ausweitung staatlicher Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen mittels Corona-Verordnungen gewarnt.
Im Gespräch mit der Zeitung sagte Harari, der an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrt, COVID-19 selbst sei als Seuche „noch vergleichsweise mild“. Immerhin sei die Sterblichkeitsrate gering – nicht nur im Vergleich zur Schwarzen Pest des Mittelalters, die die Hälfte der Bevölkerung in Europa und Asien getötet habe, sondern auch im Vergleich zur sogenannten „Spanischen Grippe“ der Jahre 1918 und 1919.
Die größte Gefahr von COVID-19 liege „im wirtschaftlichen und politischen Bereich, nicht im medizinischen“, erklärte Harari. Die Pandemie könne nicht nur ganze Regionen wie Südamerika zusammenbrechen lassen, sondern auch zum Mainstreaming des Gebrauchs neuer Überwachungstechnologien beitragen. Darin liege auch der eigentliche Grund zur Sorge:
„Es könnte sein, dass man sich in 50 Jahren weniger an das Virus erinnert als an den Moment, als die Überwachung aller durch die Regierung begann.“
Traum totalitärer Regime
Die biometrische Überwachung könnte mit Maßnahmen beginnen, die helfen nachzuvollziehen, wo sich eine bestimmte Person gerade befinde und mit wem sie sich treffe. Am Ende könnte es jedoch auch so weit kommen, dass die Überwachung von Körperfunktionen und die daraus gewonnenen Daten der Kontrolle durch den Einzelnen entzogen werden:
„Die Regierungen und die Konzerne werden in der Lage sein, uns besser zu kennen als wir selbst, sie werden unsere Emotionen und Gedanken verstehen können und unsere Persönlichkeit. Es ist die Art sozialer Kontrolle, von der totalitäre Regimes immer geträumt haben.“
Pandemie als Vorwand zur Normalisierung engmaschiger Kontrolle
Der zunehmende Einsatz von Überwachungstechnologie in der Bekämpfung der Corona-Pandemie weckt bereits seit längerer Zeit Argwohn. Immerhin haben nicht nur totalitäre Regime wie China, die seit Ausbruch der Seuche auf technologische Möglichkeiten zum Aufspüren von Infektionsketten gesetzt.
Auch in freien Ländern stellen Digital-Experten einen zunehmenden Trend zur Überwachung unter dem Banner des Gesundheitsschutzes fest. Forderungen wie jene nach Kontrollen in Privatwohnungen, wie sie SPD-Gesundheitssprecher Karl Lauterbach erhoben hat, sind dabei nur die Spitze des Eisberges.
Einen nachhaltigen Effekt könnten vor allem Technologien zur Telefonüberwachung, Apps zum Nachvollziehen von Kontakten oder physische Überwachungssysteme wie CCTV-Kameras mit Gesichtswiedererkennung haben.
Die Datenschützer-Plattform Top10VPN hat eine Datenbank aufgebaut, die erfasst, welche digitalen Tracking-Apps für Kontakte und Aufenthaltsorte bislang in Verwendung sind und welche Möglichkeiten es zur physischen Überwachung gibt.
Demnach seien 120 Kontakt-Tracking-Apps in 71 Ländern, 60 Aufenthalt-Tracking-Apps in 38 Ländern und 43 physische Überwachungssysteme in 27 Ländern im Zuge der Corona-Krise in Dienst gestellt worden. Dazu kommen Maßnahmen wie Userdaten-Mitteilungen durch Telekommunikationsunternehmen in 20 Ländern oder Drohnen zur Überwachung von Lockdowns in 22 Ländern.
Nur Norwegen reagierte auf Proteste gegen Überwachung mittels Corona-App
Im Juni nahm der „Guardian“ einige dieser Apps unter die Lupe. Im März führte Israel eine Phone-Tracking-App ein, die es den Sicherheitsdiensten des Landes ermöglichte, den Standort der Mobiltelefone von mutmaßlichen oder nachgewiesen Trägern des neuartigen Coronavirus zu orten.
In Indien wurde eine staatliche App namens Aarogya Setu ins Leben gerufen, die Bluetooth und GPS nutzt und deren Download für alle Staatsbediensteten zur Pflicht gemacht wurde. Zudem haben sich mehr als 100 Millionen Bürger die App freiwillig auf ihr Mobiltelefon geladen. Auch in Bahrain, Kuwait und Norwegen sind weitreichende Tracing-Apps im Einsatz – die Regierung in Oslo schaffte ihr Programm nach Protesten von NGOs wieder ab.
Staat gibt einmal erlangte Befugnisse ungern aus der Hand
Während Frankreich Überwachungskameras im Pariser Metrosystem und in Bussen in Cannes testete, die mit künstlicher Intelligenz arbeiten, bedient sich Südkorea eines Systems der Kontaktnachverfolgung, das die Historie von Kreditkartentransaktionen sowie die Daten elektronischer Armbänder erfasst.
Datenschützer verweisen auf die Erfahrungen der USA nach dem 11. September. Sie warnen, dass auch freie Staaten dazu neigen, einmal erlangte Befugnisse zur Kontrolle und Überwachung der Bürger, die den Regierungen im Zeichen von Gefahrensituationen zugestanden wurden, auch nach deren Wegfall nicht mehr aus der Hand zu geben.
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