Am 22. April legte Rechtsanwalt Carlos A. Gebauer gemeinsam mit Florian Post (MdB der SPD) und drei weiteren Beschwerdeführern Verfassungsbeschwerde gegen die Änderungen im Infektionsschutzgesetz in Karlsruhe ein. Prof. Dr. Dietrich Murswiek, einer der renommiertesten deutschen Staatsrechtler, vertritt die Kläger. Neben der Verfassungsbeschwerde wurde ein Antrag auf eiligen Rechtsschutz gestellt.
Der zentrale Kritikpunkt dieser Verfassungsbeschwerde ist der Inzidenzwert-Automatismus, also die gesetzliche Anordnung der Maßnahmen ohne Beurteilung der epidemiologischen Kriterien und ohne Folgenabwägung in der jeweiligen Situation.
Die juristische Architektur des Gesetzes mit einem starren legislativen Automatismus setze eine Vielzahl bislang sicher geglaubter, rechtsstaatlicher und verfassungsrechtlicher Standards außer Kraft, so RA Gebauer. Verletzt werde zudem das – historisch aus guten Gründen festgeschriebene – föderale Prinzip der Republik.
Eine einzelne Behörde, das Robert Koch-Institut, wird so zu einer das Leben steuernden, quasi-gesetzgebenden Institution, deren Handeln keiner fachrichterlichen Kontrolle unterliegt. Neben der Frage nach dem akuten tatsächlichen Risiko und konkreten Gefahren sei festzustellen:
„Dem Gesetzgeber des Grundgesetzes steht nicht die Kompetenz zu, menschliches Leben über modellberechnete Algorithmen zu steuern.”
Der Anspruch der Legislative, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens schützen zu wollen, lasse sich deutlich effektiver auch mit milderen Mitteln erreichen.
Jeder ist betroffen
In der Verfassungsbeschwerde wird zunächst dargelegt, warum die Beschwerdeführer selbst betroffen sind. Ebenso wird die gegenwärtige und die unmittelbare Betroffenheit erklärt.
Als Rechtsanwalt ist Carlos A. Gebauer besonders intensiv durch die nächtliche Ausgangssperre betroffen, obwohl es eine Ausnahme für diese Berufe gibt. Er habe aktuell gerichtliche Rechtsstreitigkeiten in 12 Bundesländern und das setze Reisen voraus (inklusive Übernachtungsmöglichkeiten und Besuchen in Gaststätten).
Zudem fragt er: “Wie soll sich eine unterbrechungsfreie Reise von Düsseldorf nach Schwerin, nach München oder nach Leipzig darstellen, wenn kontinuierlich und überall die Möglichkeit gegeben ist, den Reisenden polizeilich nach der Legitimität seiner Reise prüfen zu dürfen?”
Die anderen Beschwerdeführer sind insbesondere betroffen durch die Kontaktbeschränkungen, durch das Verbot kultureller Veranstaltungen, die Untersagung der Öffnung von Gaststätten und das Beherbergungsverbot.
Beispielsweise hat eine der an der Klage Beteiligten keinen Führerschein und ist darauf angewiesen, dass ihr Ehemann sie zu ihrer Tochter und ihren Enkelkindern fährt, die sie betreut. Die Strecke beträgt mit dem Auto 20 bis 25 Minuten, mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln benötigt sie mindestens 90 Minuten (nur alle vier Stunden würde ein direkter Bus fahren). Ihr Ehemann kann sie laut der derzeitigen Regelung lediglich zu ihrer Tochter fahren, muss dann wieder nach Hause fahren und sie abends extra wieder abholen.
Ein weiterer Beschwerdeführer besucht traditionell am Abend regelmäßig ein befreundetes Ehepaar in der Nachbarschaft und trifft sich mit ihnen zu Gesprächen und einem Glas Wein. Wegen seiner Arbeit hat er für diese Besuche erst spät am Abend Zeit. Diese beginnen mitunter erst nach 22 Uhr und dauern oft bis weit nach Mitternacht.
Zum anderen ist es ein Hobby von ihm, Tiere in der freien Natur zu beobachten. Er fährt in aller Frühe – oft morgens um 3 Uhr – in den Wald. Diesem Hobby kann er wegen der Ausgangssperre nicht nachgehen. Ebenfalls betroffen ist er durch das Totalverbot der Öffnung von Gaststätten, wo er sich nach getaner Arbeit entspannte.
Jeder muss jederzeit seine Lebensplanung ändern können
Das Gesetz trat am 23. April in Kraft. Auch wenn ein Landkreis oder eine kreisfreie Stadt den Schwellenwert von 100 unterschreitet, zeigen die Erfahrungen der letzten Monate, dass schnelle Änderungen eintreten können. Daher schreiben die Beschwerdeführer:
“Jeder Einzelne muss also seine Lebensplanung so einrichten, dass er mit dem jederzeitigen Wirksamwerden der Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG rechnen muss.”
Allerdings könne mit der Verfassungsbeschwerde nicht gewartet werden, bis der Schwellenwert der Inzidenz überschritten wird. Grund ist, dass die “Verfassungsbeschwerde der einzige zur Verfügung stehende Rechtsbehelf ist und dieser Rechtsbehelf käme angesichts der üblichen Dauer von Verfassungsbeschwerdeverfahren zu spät, um effektiven Rechtsstaat zu bieten.”
Zudem kommt es nicht allein auf die Inzidenzen am Wohn- oder Arbeitsort an, sondern betreffe alle Orte, an denen man sich aufhalten könnte (wie beispielsweise den Ort, an dem die Enkelkinder leben).
Eine derartige Einschränkung der Grundrechte gab es noch nie in der Geschichte der BRD
Mit der Beschwerde sollen grundsätzlich verfassungsrechtliche Fragen geklärt werden, zahlreiche ähnlich gelagerte Fälle könnten mitentschieden werden.
Die Autoren betonen, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie eine Situation gegeben hat, in der – wie hier – die Grundrechte aller Menschen in Deutschland in schwerwiegender Weise zur Bekämpfung von Gefahren beziehungsweise Risiken eingeschränkt worden wären, obwohl die allermeisten von ihnen Nichtstörer (also für die bekämpften Gefahren oder Risiken nicht verantwortlich) seien.
Dies werfe Fragen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Freiheitseinschränkungen auf. Mit der Verfassungsbeschwerde, so wird betont, wird nicht die konkrete Beurteilung der epidemischen Lage durch die Bundesregierung und die Gesetzgebungsorgane im Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes angegriffen.
Es geht allein darum, ob der Gesetzgeber mit den in § 28b Abs. 1 IfSG vorgesehenen juristischen Mitteln auf diese Lage reagieren darf.
Sechs Grundrechte
Nach der Erklärung des Sachverhaltes und der Zulässigkeit ihrer Beschwerde wird dargelegt, dass folgende Grundrechte missachtet und betroffen sind:
1. Freiheit der Person (Ar. 2 Abs. 2 Satz 2 GG)
2. Recht auf Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)
3. Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)
4. Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)
5. Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG)
6. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).