Japan ist eine der wenigen großen Volkswirtschaften, die zeitnahe statistische Daten über Selbstmorde veröffentlichen. So reichen die
Daten über Selbstmorde des Statistischen Bundesamt Deutschland bis 2019,
die der USA nur bis 2018. Aufgrund der aktuellen weltweiten Entwicklung können die Daten Aufschluss darüber geben, wie sich die Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit auswirkt – und welche Folgen die Maßnahmen für die Menschen haben.
Wie
“CNN” unter Berufung auf inzwischen
gelöschte Daten der Nationalen Polizei Agentur schrieb, übersteigt die Zahl Selbstmorde im Monat Oktober, die Zahl der Corona-Toten “im gesamten bisherigen Jahr”. So registrierte die Polizeibehörde im Oktober
2.153 Selbstmorde. Bis einschließlich Ende November lag die Gesamtzahl der Covid-19-Toten in Japan bei 2.087, teilte das Gesundheitsministerium mit.
83 Prozent mehr Selbstmorde unter Frauen
Laut Weltgesundheitsorganisation bescheinigt Japan eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. 2016 nahmen sich etwa
18,5 pro 100.000 Japaner das Leben. Dieser Wert liegt etwa 75 Prozent über dem weltweiten Durchschnitt von etwa 10,6 Selbstmorden pro 100.000 Menschen.
Nach Angaben des japanischen Gesundheitsministeriums sank die Zahl der Selbstmorde seit 2010 kontinuierlich und erreichte mit unter 20.000 Fällen (
15,8 pro 100.000) im Jahr 2019 den niedrigsten Wert seit Beginn der Aufzeichnungen durch die Gesundheitsbehörden des Landes im Jahr 1978.
Besonders auffällig ist, dass die Zahl der weiblichen Selbstmordopfer in den letzten Monaten stark zugenommen hat. Bezogen auf den Vorjahresmonat (ca. 1.540) stieg die Gesamtzahl der Selbstmorde im Oktober 2020 um 40 Prozent. Während Männer “nur” 22 Prozent häufiger keinen Ausweg sahen, nahmen die Selbstmorde unter Frauen in Japan um fast 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat zu.
Laut “CNN” gibt es dafür mehrere mögliche Gründe. Frauen machen einen größeren Prozentsatz der Teilzeitbeschäftigten im Hotel-, Gaststätten- und Einzelhandelsgewerbe aus – wo es zu starken Entlassungen kam. Außerdem steige durch die Schließung von Schulen und Kitas der familiäre Druck auf (junge) Frauen.
“Wir hatten nicht einmal einen Lockdown”
Auch Eriko Kobayashi hatte in der Vergangenheit mit Druck zu kämpfen gehabt und bereits einen Selbstmordversuch überlebt. Sie sagt, dass die Pandemie die Angst zurückgebracht hat. Die heute 43-Jährige bestätigte auch, dass viele ihrer Freunde entlassen worden sind. “Japan hat die Frauen ignoriert”, sagte sie. “Dies ist eine Gesellschaft, in der die schwächsten Menschen als erste abgeschnitten werden, wenn etwas Schlimmes passiert.”
In einer
weltweiten Studie berichteten 27 Prozent der Frauen über erhöhte Herausforderungen bei der psychischen Gesundheit während der Pandemie. Die angegebenen Gründe bestätigen die Vermutungen aus Japan: Mütter, die ihren Job in der Pandemie behielten, mussten plötzlich und oft zusätzlich zu ihren normalen Arbeitsaufgaben die Kinderbetreuung übernehmen. Mütter, deren Arbeitsverhältnis aufgrund der Pandemie aufgelöst wurden, haben zwar mehr Zeit, müssen sich aber ohne Einkommen um die Kinder sorgen.
„Wir hatten nicht einmal einen Lockdown, und die Auswirkungen von Covid sind sehr minimal im Vergleich zu anderen Ländern … aber trotzdem sehen wir diesen großen Anstieg der Anzahl von Selbstmorden”, sagte Selbstmord-Experte Prof. Michiko Ueda von der Waseda Universität in Tokio. “Das deutet darauf hin, dass andere Länder in Zukunft einen ähnlichen oder sogar noch größeren Anstieg der Zahl der Selbstmorde erleben könnten.”
Corona-Maßnahmen treiben 5-Jährige zu Selbstmordgedanken
Auch die “Anata no Ibasho”-Hotline – wörtlich “Ein Ort für dich”, den Menschen mit psychischen Sorgen aufsuchen können – erhält seit Beginn der Pandemie mehr als 200 Anrufe und Nachrichten pro Tag. “Die meisten Anrufe kommen zwischen 22 Uhr abends und 4 Uhr morgens”, weiß der 21-jährige Gründer der Hotline Koki Ozora. Die überwiegende Mehrheit seien Frauen. “Sie haben ihren Job verloren und müssen ihre Kinder großziehen, aber sie haben kein Geld”, sagte Ozora.
„[Wir] haben Nachrichten bekommen, wie ‘Ich werde von meinem Vater vergewaltigt’ oder ‘Mein Mann hat versucht, mich umzubringen'”, zitiert “CNN” Ozora. “Frauen schicken diese Art von Texten fast jeden Tag. Es werden immer mehr.”
Naho Morisaki vom National Center for Child Health and Development sagte seinerseits, dass auch Kinder unter erhöhtem Stress leiden. Noch mehr Hausaufgaben weniger Freiheit und weniger Zeit mit Freunden führen dazu, dass
75 Prozent der japanischen Schulkinder Anzeichen von Stress aufgrund der Pandemie zeigen. Und es betrifft auch noch Jüngere. Einige Kinder, die bei “Anata no Ibasho” anriefen, waren laut Ozora erst fünf Jahre alt.

*** Falls Sie oder ein Ihnen nahestehender Mensch Selbstmordgedanken haben, holen Sie sich Hilfe. Kontaktieren Sie die Telefonseelsorge, die anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar ist unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222. ***