Nach einer sorgfältigen Prüfung des Gesetzentwurfs zum neuen Infektionsschutzgesetz melden sich immer mehr Richter und Anwälte zu Wort. Darunter sind auch das „Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte“ und die „Anwälte für Aufklärung“. Sie äußern sich kurzfristig und besorgt, da der Gesetzentwurf so weitreichend ist und in derart kurzer Zeit von der Politik durchgesetzt werden soll.
Jens Gnisa, ehemaliger Interessenvertreter von rund 17.000 Richtern in Deutschland, stellt fest: „Der Bund schießt deutlich über alle Verhältnismäßigkeits-Grenzen hinaus.“ Gnisa war bis Ende des Jahres 2019 Vorsitzender des Deutschen Richterbunds. Er stellt fest, dass es
„… sich wohl um das am tiefsten in die Grundrechte einschneidende Bundesgesetz der letzten Jahrzehnte handeln dürfte“.
„Durchregieren bis ins Wohnzimmer“
Es seien die einschneidendsten Maßnahmen für die rund 83 Millionen Menschen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, unterstreicht das „Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte“. Der § 28b würde ein „Durchregieren bis in die Wohnzimmer der Menschen“ ermöglichen, noch dazu abhängig „von einem Messwert, der zunehmend in der Kritik von Juristen und Medizinern steht“.
Das Prinzip des Föderalismus habe sich seit 1949 bewährt und sei nach viel Leid als Mittel zur Machtbegrenzung und Machtverteilung eingeführt wurden. Es führte Deutschland bislang erfolgreich durch jede Krise.
Starre Regelungen ohne Rücksicht auf die Besonderheiten einer Region ließen „vollkommen außer Acht, dass der Inzidenzwert ein nahezu willkürliches Instrument zur Messung des Infektionsgeschehens ist“.
„Der neue § 28b IfSG würde ein automatisiertes Durchregieren des Bundes auf unabsehbare Zeit manifestieren.”
Eine Folge der Festlegungen auf Bundesebene wäre, dass bei Klagen der Bürger nicht länger die Verwaltungsgerichte zuständig wären. Es ergebe sich durch das „angestrebte Nebeneinander von Bundesgesetz sowie von Verordnungszuständigkeiten von Bund und Ländern sowohl für den Bürger als auch den Verordnungsgeber ein unüberschaubarer Flickenteppich von Regelungen.”
In der
Stellungnahme des „Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte“ heißt es: „In einer Art manipulierbarem Automatismus würde der Exekutive auf Bundesebene eine praktisch nur durch das Bundesverfassungsgericht überprüfbare Macht zur Einschränkung elementarer Grundrechte eingeräumt werden. Gleichzeitig würde durch unmittelbar geltendes Parlamentsgesetz, das keiner Umsetzung durch die Exekutive mehr bedarf, der instanzgerichtliche Rechtsschutz und damit der Grundsatz der Gewaltenteilung ausgeschaltet. All dies hat mit den über Jahrzehnte gewachsenen Institutionen unserer parlamentarischen Demokratie, dem Föderalismus und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht mehr viel gemein.”
Appell an die Abgeordneten: Der Entrechtung entgegentreten
Die Richter und Staatsanwälte fordern die Abgeordneten im Bundestag nachdrücklich auf, dieser offensichtlichen Entrechtung der Länderparlamente, weiter Teile der Judikative und vor allem der Menschen in diesem Land entgegenzutreten. Sie fordern: „Springen Sie über den Schatten Ihrer Fraktionsdisziplin und nehmen Sie das Wohl der Menschen in den Blick!”
Ähnlich appellieren die „Anwälte für Aufklärung“ an das Gewissen der Abgeordneten, diesem Gesetzesvorhaben nicht zuzustimmen. Sie warnen davor, dass eine Dauerlegitimität zur Aushebelung des Föderalismus geplant ist.
„Wir fordern Sie persönlich hiermit auf: Stimmen Sie mit einem klaren ‘Nein’ gegen diesen Gesetzesentwurf! Die Würde der Menschen ist unantastbar (Art. 1 GG).”
Auch die Anwälte verweisen auf die Erfahrungen aus der deutschen Geschichte. „Dies widerspricht diametral den Lehren, die die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes aus dem Versagen der Weimarer Reichsverfassung gezogen haben. Aufgaben im Inneren unseres Landes haben die Bundesregierungen früherer Jahre aus guten Gründen immer den Ländern überlassen: Weil die Länder für Ihre Bürger passgenauere Lösungen entwickeln und umsetzen können als der Bund, der beispielsweise sein Versagen bereits in der bundesweiten Impfkoordinierung deutlich gemacht hat.”
Und weiter: „Mit der Festlegung eines bundesweiten ‘Inzidenzwertes von 100’ wird lokal praktikable Politik durch Technokratie ersetzt. Kommunale Spielräume verschwinden, Länderparlamente werden entmachtet, der Bund regiert starr und technokratisch, schematisch und entpersonalisiert. Lassen Sie es nicht so weit kommen!”
Menschenwürde muss vor dem Schutz der Gesundheit stehen
Indem der Gesundheitsschutz grundgesetzwidrig als „gleichsam höchstes aller Grundrechte von der gegenwärtigen Politik angesehen“ werde, habe bereits ein illegitimer Austausch der moralischen Grundformel in der Gesellschaft stattgefunden, so die „Anwälte für Aufklärung“. Sie weisen darauf hin: „Statt Gesundheitsschutz hat die Menschenwürde an allererster Stelle unseres Wertesystems zu stehen.”
Eine Überlastung des Gesundheitssystems könne kaum vorliegen, wenn allein im Jahr 2020 zwanzig Krankenhäuser geschlossen wurden und stetig tausende Intensivbetten abgebaut würden. Mit Stand 10. April 2021 seien von rund 22.000 Intensivbetten „nur“ 4.522 mit Patienten belegt, die an oder zusätzlich an Corona erkrankt seien.
Das Gesundheitswesen ist ebenso wie das Bildungswesen und die Polizei weitgehend Sache der Länder. „Dass nun allein die Kanzlerin und der Bund mittels Verordnungsermächtigung plötzlich besser regieren können soll, ist ein historischer Trugschluss. Lokale Akteure, die auf der Grundlage einer fallbezogenen Entscheidung handeln, vermögen auf die aktuelle Lage allemal besser zu reagieren als ein Bundesgesetzgeber ohne Augenmaß.”