Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz den aus seiner Sicht zu stark gewordenen Nationalismus sowohl in den USA als auch in Russland und China zum Verantwortlichen für die „Westlosigkeit“ erklärt, die eines der Leitmotive der Veranstaltung darstellte. Der Multilateralismus und die freiwillige Übertragung nationaler Souveränitätsrechte an supranationale Organisationen wie die UNO und die EU sind aus seiner Sicht der Kern des Ideals einer
westlich geprägten Weltordnung.
Demgegenüber meint Nora Müller, Leiterin des Bereiches Internationale Politik der Körber-Stiftung, dass Deutschland selbst an der Uneinigkeit und dem Bedeutungsverlust des Westens und seiner Institutionen nicht gänzlich unbeteiligt sei.
In einem
Beitrag für die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) gibt sie ihrer Einschätzung Ausdruck, dass Deutschland seine Westbindung, der es auch seinen großen Erfolg verdanke, „nach und nach verlottern“ lasse.
Äquidistanz zu Washington und Moskau gewinnt zunehmend an Rückhalt
Dass „die Bundesrepublik mit aller Konsequenz dem Westen den Rücken kehrt und sich aus dem Kreis der liberalen Demokratien verabschiedet“, hält Müller auch in Zeiten der „Rückgängigmachung“ von „unverzeihlichen“ Wahlen auf Landesebene durch die Bundeskanzlerin für „auf absehbare Zeit tatsächlich unvorstellbar“. Dennoch gelte: „Wer unterhalb der Ebene staatstragender Bekenntnisse genauer hinschaut, erkennt Unwuchten und Risse im Fundament der deutschen Westbindung.“
Dreißig Jahre, nachdem Deutschland seinen Status als „Frontstaat“ gegenüber der kommunistischen Bedrohung verlor, dessen Existenz die amerikanische Schutzmacht garantiert hatte, spricht sich in einer eigenen Studie der Körber-Stiftung ein Drittel der Deutschen für eine gänzlich neutrale Außenpolitik aus. Zudem wollen 30 Prozent eine deutsche Äquidistanz zwischen Washington und Moskau. Dabei zeige sich ein auffälliger Gleichklang zwischen Anhängern der Linkspartei und der AfD, wo diese Positionen auf überdurchschnittliche Zustimmung stoßen.
Während die Westbindung nach der beendeten Blockkonfrontation für Deutschland an strategischer Relevanz verloren habe, seien Mächte wie Russland und die VR China als Handelspartner bedeutsamer geworden. Man suche nach Wegen, um die innerhalb der NATO auch mit den Stimmen Deutschlands vereinbarte Anhebung des Verteidigungshaushalts auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu vermeiden oder zumindest zu verzögern. Der derzeitige Stand ist, dass Deutschland diese Zielvereinbarung bis 2031 erfüllen möchte – für die Körber-Stiftung ist das ein „ungedeckter Scheck“.
Abhängigkeit von China
Demgegenüber hängen derzeit bereits 900.000 Arbeitsplätze von China ab. Ungeachtet aller Kritik an den Handelspraktiken des Regimes in Peking hat die EU-Kommission China im Vorjahr erstmals als „strategischen Partner“ – wenn auch gleichzeitig als „Systemkonkurrenten“ – eingestuft. In Berlin ignoriert man weitgehend elementare Sicherheitsbedenken, wenn es darum geht, den regimenahen Netzanbieter Huawei zum 5G-Ausbau zuzulassen.
Bezüglich der Gasversorgung, die ein Viertel des deutschen Energieportfolios ausmacht, ist man jetzt schon in hohem Maße von Lieferungen aus der Russischen Föderation abhängig. Die geplante „Nord Stream 2“-Pipeline wird – neben einer ideologischen Energiepolitik – diese Abhängigkeit noch weiter vergrößern. In den USA, aber auch in Nord- und Mitteleuropa, werde, so Müller, die Pipeline als Inbegriff eines deutschen Sonderwegs gegenüber Moskau wahrgenommen.
Den Westen von gestern gibt es nicht mehr, räumt auch die Think-Tank-Abteilungsleiterin ein. Deshalb solle Deutschland sich auch nicht an ein „sentimental verklärtes Ideal des Westens klammern“. Auch die Anmaßung, sich selbst zum „Führer der freien Welt“ zu erklären, sei kein Weg, wasauch Bundeskanzlerin Angela Merkel klargestellt habe.
Körber-Stiftung: Souveränes Europa muss Partner der USA sein, nicht Konkurrent
Deutschland könne sich mit seiner Rohstoff- und Exportabhängigkeit auch nicht von eurasischen Großmärkten wie Russland und China abkoppeln. Allerdings solle man sich darüber im Klaren sein, dass, wie auch Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, betone, mit dem wachsenden Einfluss Pekings auch der Versuch einhergehe, das eigene autoritäre Modell zu internationalisieren.
Dem Zerfall des Westens entgegenzutreten, sollte, so Müller von der Körber-Stiftung, „aus Berliner Perspektive vor der eigenen Haustür, das heißt in der EU, beginnen“. Ein „souveränes Europa“, das sich als Partner, nicht als Konkurrent zu den USA sehen sollte, sei nicht denkbar ohne einen Gleichklang im zuletzt wieder angespannteren Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich. Auch sei es unverzichtbar, ungeachtet des Brexits seine engen Beziehungen zu Großbritannien zu pflegen.
Deutschland brauche den Westen, der Westen aber auch Deutschland. Eine gemeinsame, zukunftsfähige Interessenpolitik und Lastenteilung bedeute auch, dass Berlin sein Bekenntnis zu mehr an internationaler Verantwortung einlösen müsse.
Die Konsequenz: Auch Deutschland müsse sich „vor allem dort stärker engagieren, wo seine Sicherheit und die seiner Verbündeten akut bedroht ist – in Libyen, in der Sahel-Zone, im Golf von Oman“.
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