Am 12. März veröffentlichte das Robert Koch-Institut (RKI) eine Corona-Prognose, die bei fortlaufender Entwicklung eine bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz von über 300 bis Mitte April vorhersagte. Mit Fallzahlen auf dem Niveau von Weihnachten sei zu rechnen, hieß es.
Nur wenige Tage später prognostizierte das Forscherteam des Physikers und Kanzleramtsberaters Kai Nagel (TU Berlin) im Mai eine Sieben-Tage-Inzidenz von bis zu 2.000. Das wären 230 000 Fälle pro Tag. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schätzte die RKI-Prognosen als „realistisch“ ein und warnte vor einer „massiven Zunahme der COVID-Toten und -Invaliden“.
Auch Virologe Christian Drosten erklärte die Projektion im „NDR-Podcast“ zur „amtlichen Auffassung von dem, was uns in den nächsten Wochen bevorsteht“.
Doch dann kam alles ganz anders. Wie der
„ARD-Faktenfinder“ am 21. April, also noch vor dem endgültigen Beschluss zur bundesweiten „Notbremse“ berichtete, lagen die gemeldeten Fallzahlen bis dahin deutlich unter dieser Prognose:
„Mit derzeit leicht über 160 Fällen auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen liegt die Inzidenz nicht einmal halb so hoch, wie vom RKI Mitte März für die aktuelle Kalenderwoche vorhergesagt. Und das, obwohl entscheidende Verschärfungen der bundesweit getroffenen Maßnahmen seitdem nicht nur weitgehend ausblieben, sondern es an manchen Orten sogar zu weiteren Lockerungen und Modellversuchen kam“, heißt es in dem Artikel.
Nach dem Modell des RKI hätte die gemessene Inzidenz in 95 Prozent der errechneten Fälle zwischen circa 220 und circa 520 liegen müssen, tatsächlich stieg sie nicht über 172.
Das RKI rechtfertigte gegenüber dem „Faktenfinder“, man habe bei der Prognose einen Trend in die Zukunft fortgeschrieben, „den wir zuvor über acht Wochen stabil beobachtet haben – und der sich zunächst auch fortsetzte wie vorhergesagt. Dass er seit Ostern nun so nicht mehr anhält, ist ein wichtiges Signal, dessen Gründe wir noch nicht genau kennen.“
Auch die
„Bild“-Zeitung bat um eine Erklärung des RKI. Das Institut erklärte die niedriger als erwarteten Inzidenzen im April mit „nachweisbar reduzierter Mobilität der Menschen über die Oster-Feiertage sowie die Osterferien“. Auch geschlossene Schulen und eine „Verhaltensanpassung der Bevölkerung“ könnten zu diesem Trend beigetragen haben.
Medizinstatistiker Gerd Antes sieht die Prognose dennoch kritisch. Entwicklungen einfach fortzuschreiben sei „geradezu ein fachlicher Fehler“, zitiert ihn „Bild“. Es sei „ein chronischer Fehler der Modellbildung, einen Trend fortzuschreiben und naiv in die Zukunft zu schauen“.
Die „Bild“ stellte daraufhin fest, dass „trotz der fehlerhaften Prognosen“ die politischen Folgen „gigantisch“ gewesen seien und zitiert FDP-Politiker Wolfgang Kubicki: „Angst zu verbreiten scheint mittlerweile ein übliches Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen zu sein.“ Das RKI müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, es sei „ein willfähriger Erfüllungsgehilfe der Bundesregierung, um die jeweils nächsten harten Maßnahmen quasi-wissenschaftlich zu begründen“. Kubicki warnt: „Mit solchen Einlassungen wird jedoch das Vertrauen in die Lauterkeit dieser wichtigen Institution nachhaltig zerstört.“ (nmc)
