NRW-Schulleiter schreiben Brandbrief an Laschet: Wer trägt Verantwortung für “Feldversuch”?
Fehlende Lehrkräfte, unklare Bewertungen für den Distanzunterricht und komplexe Hygiene-Vorschriften. Die Schulleiter in Nordrhein-Westfalen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. In einem offenen Brief kritisieren sie die Missstände an den Schulen und fordern Gehör.

Ein Kind meldet sich im Unterricht, die Mund-Nasen-Bedeckung um die Finger gewickelt.
Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images
„In großer Sorge um die Lage in den Schulen und vor allem die konkrete Bildungssituation der Schülerinnen und Schüler wendet sich die Schulleitungsvereinigung NRW an Sie als Ministerpräsidenten des Landes“, heißt es in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet. In den vergangenen Wochen und Monaten habe der Verband der Schulleiter wahrgenommen, dass die Schulpolitik zu wenig die tatsächlichen Rahmenbedingungen der Schulen realisieren würde.
Die Schulleiter mahnen an, dass sich die oberste Schulbehörde der eigenen Verantwortlichkeit entledigt und die gesamte Verantwortung an Gesundheitsämter, Schulträger und Schulleitungen weitergibt. Die Schulministerin ignoriere die vielerorts nicht gegebenen baulichen Voraussetzungen. Die öffentlichkeitswirksam präsentierte Handreichung des Ministeriums für Schulen und Bildung in Nordrhein-Westfalen zum Lernen auf Distanz signalisiere der Elternschaft das Versprechen der Umsetzung folgender Vorgaben:
- Regelmäßige Fensterlüftung (Stoßlüftung) – Klassenräume, die nicht gelüftet werden können, dürfen nicht genutzt werden!
- Abstand halten auf Fluren und draußen, kein Abstand in den Klassenräumen.
- Maskenpflicht auch im Klassenraum (nicht für die Jahrgänge 1-4, wenn die Kinder fest an ihrem Platz sitzen).
- Weitestmögliche Erteilung des „normalen Unterrichts“ –aber in „festen Lerngruppen“.
- Richtlinien und Vorgaben der Leistungsbeurteilung für Präsenzunterricht werden auf Distanzunterricht übertragen.
Vorgaben des Ministeriums nicht umsetzbar
Die Umsetzung dieser Vorgaben müssten die Schulleitungen umsetzen. Ein „normaler Unterricht“ sei laut Schulleitungsvereinigung unter diesen Umständen jedoch nicht möglich. Beispielsweise finden Kurssysteme, Religionsgruppen, Fördergruppen, sonderpädagogische Förderung und Deutschunterricht für Schüler aus anderen Herkunftsländern in unterschiedlichen Lerngruppen statt. Wenn die Schulen die Forderungen des Ministeriums ernst nehmen würden, müssten verschiedene Kurse ausfallen.
Auch der ausschließliche Einsatz von Lehrkräften in festen Lerngruppen sei nicht realisierbar. „Fachunterricht, Teilzeitkräfte und viele andere Begebenheiten müssen bei der Stundenplangestaltung berücksichtigt werden“, heißt es in dem offenen Brief an Laschet. Im herkunftssprachlichen Unterricht seien Lehrkräfte an mehreren verschiedenen Schulen eingesetzt.
Zudem beanspruche der Vertretungsunterricht für erkrankte Lehrkräfte ein hohes Maß an Flexibilität in den Schulen. Unterjährige Stellenbesetzungen, Ausbildung von Lehramtsanwärtern, Referendaren und Studenten im Praxissemester würden unterschiedliche Lerngruppen erfordern. Auch der Vertretungsbedarf durch Schwangerschaften sei immens.
Leistungsbewertung steht vor Herausforderung
Problematisch sei auch die Bewertung der Leistungen im Distanzunterricht. Insoweit seien die Regelungen „anscheinend völlig unreflektiert und oberflächlich in die Praxis transferiert worden“. Dadurch werde eine Leistungsbeurteilung „im luftleeren Raum ohne Vorgaben, ohne Standards“ gefordert.
Die Schulleiter kritisieren: „Diese Forderung ist rechtlich und pädagogisch nicht haltbar, wirft alle Vorgaben des Prüfungsrechts über den Haufen, sorgt in den Schulen für Verunsicherung, führt in der Praxis zu sichtbarer Ungleichbehandlung und wird in der Folge zu Fluten von Widersprüchen und Klagen führen.“
Ungenutzte Gelder – fehlende Voraussetzungen
Das Ministerium rühme sich in der Öffentlichkeit mit Ressourcen, die es zur Verfügung stelle, heißt es weiter im offenen Brief. 75 Millionen Euro seien für Förderung von Kindern in den Sommerferien zur Verfügung gestellt worden. Die Information dazu seien in den Schulen unmittelbar vor, oder teilweise in der ersten Woche der Sommerferien angekommen.
„Wie können Schulen und Schulträger Förderung organisieren, wenn die Informationen so spät kommen?“, fragen die Schulleiter.
Ebenso fragwürdig sei die Ankündigung, mehr Lehrkräfte und Vertretungslehrkräfte einzustellen. In den Schulen würden schon jetzt viele Menschen als Lehrerinnen und Lehrer arbeiten, die keine abgeschlossene Lehrerausbildung haben und als „Seiteneinsteiger“ gelten. In den strukturschwachen Regionen oder in Brennpunktschulen herrsche zum Teil ein immenser Lehrermangel, sodass Stundentafeln schon in der Vor-Coronazeit nicht abgedeckt werden konnten.
„Es werden Gelder zur Verfügung gestellt, die aufgrund von Kurzfristigkeit nur bedingt abgerufen werden können. Im Gegenzug wirft das MSB [Ministerium für Schule und Bildung] den Kommunen vor, die Gelder nicht pünktlich abzurufen“, schildern die Schulleiter in dem offenen Brief.
Der Öffentlichkeit werde aber „vorgegaukelt, wie verantwortungsvoll, vorausschauend und umsichtig“ das Ministerium in NRW arbeite. Die Arbeitsbedingungen vor Ort scheinen hingegen nicht bekannt zu sein oder würden ignoriert. Insoweit führen die Schulleiter an, dass Hausmeister und Reinigungsdienste in Ferien beispielsweise nicht verfügbar seien.
„Feldversuch“ und fehlende Verantwortung
Nach Auffassung der Schulleitungsvereinigung NRW kommt das Bildungsministerium seiner Verantwortung für Vorsorge und Gesundheitsschutz gegenüber den Schülern, den Lehrkräften und den Schulleitungen im Land nicht nach. Insoweit spricht die Vereinigung von einem „Feldversuch“ des Ministeriums.
Hinter diesem „Feldversuch“ sehe man die Intention, sich allein durch die Formulierung „geeigneter“ Vorgaben aus der Verantwortung zu ziehen. Im Alltag sei von geprüfter Qualität, von politisch verantworteter Bildungsgarantie nichts zu spüren. Dies betreffe nicht nur den Corona-bedingten Distanzunterricht. „Der gesamte Ansatz digitalen Lernens entbehrt bisher jeder pädagogischen Zieldefinition und jeder Vorbereitung konkreten Unterrichts“, heißt es von der Vereinigung.
Einzig von Beschaffungsansätzen für Hardware sei die Rede, wobei auch hier mit hohen Millionenbeträgen agiert werde. Bei der Umsetzung für betroffene Schülerschaft und das lehrende Personal vor Ort seien jetzt schon massive Verzögerungen festzustellen. Manche Schulträger würden bezweifeln, dass die Mittel ausreichen. Andere seien nicht einmal in der Lage, die bereitgestellten Mittel abzurufen, da keine Zuständigkeiten in den Schulverwaltungen vorhanden seien.
So könne es auch nicht verwundern, dass Schulträger nicht über Konzepte für die mögliche Ausstattung mit Geräten in den unterschiedlichen Schulformen verfügen. In Bezug auf die Bereitstellung von Endgeräten seien inzwischen Schulleitungen aufgefordert, Bedarfs- und Bedürfnisabfragen unter den Familien zu machen. Zu befürchten sei schon jetzt, dass nicht alle in notwendigem Maße partizipieren werden.
Abschließend kritisiert die Schulleitungsvereinigung, dass sie dem Bildungsministerium kompetente Beratung durch Personen, die täglich vor Ort arbeiten, angeboten habe. Leider habe die Schulleitervereinigung immer wieder eine „Scheinbeteiligung“ durch das Bildungsministerium festgestellt und kritisiert: „Ein wirkliches Interesse des MSB [Ministerium für Schule und Bildung] an der Realität vor Ort in den Schulen ist für uns nicht feststellbar.“
Ende der Maskenpflicht stößt auf Kritik der Grünen
Indes muss Ministerpräsident Laschet nach seiner Ankündigung, die Maskenpflicht im Schulunterricht nicht über den 31. August hinaus zu verlängern, Kritik von den Grünen einstecken. „Wenn jetzt die Maskenpflicht im Unterricht abgeschafft wird, sind die Herausforderungen im Schulbetrieb lange nicht gelöst“, sagte NRW-Grünen-Chefin Mona Neubaur der “Rheinischen Post” (Freitagsausgabe). „In unseren Schulen sitzen Kinder und Jugendliche ohne ausreichenden Abstand in oft schlecht zu lüftenden Räumen. Ein Ende der Maskenpflicht im Unterricht bereitet mir Sorgen.“
Schulbildung für alle Kinder sei eine unbedingte Notwendigkeit, sagte die Grünen-Politikerin. Es räche sich, dass es weiterhin keinen Plan B für die Bildungseinrichtungen gebe. Es sei ein halbes Jahr mit Coronakrise ins Land gezogen, ohne dass die Regierung echte Alternativen zum Präsenzunterricht mit 30 Schülern in einem Raum entwickelt habe.
(Mit Textteilen von DTS)
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