
Pflegekrise verschärft sich: Mehr als 9.000 Plätze seit Jahresbeginn verloren
Deutschlandweit schlossen bis Ende Juni 85 Einrichtungen. Der Verband sieht Fachkräftemangel und Bürokratie als das Hauptproblem an.

Pflegeplätze werden dringend benötigt, sind aber immer weniger vorhanden.
Foto: Guido Kirchner/dpa
Die Schließung von Pflegeeinrichtungen hat im Juni 2023 deutschlandweit massiv zugenommen. Das geht aus Zahlen hervor, die das Portal „Pflegemarkt“ regelmäßig veröffentlicht.
Demnach gab es einen massiven Einbruch bei der Tagespflege. So wurden 85 Einrichtungen geschlossen. Betroffen waren 1.197 Patienten. „In keinem Monat wurden dieses Jahr so viele Tagespflegen geschlossen wie im Juni“, kommentiert das Portal „Pflegemarkt“ diese Entwicklung. Knapp 68,2 Prozent der Einrichtungen befinden sich in privater, 29,4 in gemeinnütziger Trägerschaft und 2,4 Prozent in kommunaler Trägerschaft. Sieben Pflegeheime mit 383 vollstationären Plätzen gingen ebenfalls verloren. Diese Größenordnung an Schließungen gab es zum letzten Mal im Januar 2023.
Fast ausschließlich private Pflegedienste betroffen
Außerdem stellten im Juni 14 Pflegedienste ihre Arbeit ein, 678 ambulant versorgte Menschen sind davon betroffen. Den Rekord an Verlusten dieses Angebots gab es mit 40 ebenfalls im Januar 2023. Fast alle von der Schließung betroffenen Pflegedienste und -heime befanden sich in privater Trägerschaft.
Die ernüchternde Halbjahresbilanz: Bis einschließlich Juni gingen in der deutschen Pflegelandschaft durch die Schließung von 26 Pflegeheimen 1.384 vollstationäre Plätze verloren. 6.658 Patienten mussten sich nach dem Aus von 124 Pflegediensten nach neuen Betreuungsmöglichkeiten umsehen. 92 Tagespflegeeinrichtungen gaben ebenfalls auf. Sie hatten 1.258 Plätze zur Verfügung. Insgesamt sind demnach in Tagespflege, Pflegeheimen und Pflegediensten seit Jahresbeginn mehr als 9.000 Plätze verschwunden.
Zu den Gründen für die Schließungen nannte das Portal steigende gesetzliche Anforderungen, Unwirtschaftlichkeit, fehlende Nachfolgeregelungen. Dem gegenüber steht ein allgemein hoher und weiter steigender Pflegebedarf in der Bevölkerung.
Die Informationen zu den geschlossenen Standorten stammen aus der „Pflegemarkt“-Datenbank, die monatlich auf Basis der offiziellen Daten der Krankenkassen aktualisiert wird. Erlischt das Institutionskennzeichen (IK) eines Standortes, der in dieser Datenbank geführt wurde, wird überprüft, ob es sich um eine Schließung oder eine Übernahme handelt, lautet die Erläuterung auf der Internetseite zur Vorgehensweise.
Seit 2021 sind in Hessen 24 Altenheime verschwunden
Eine aktuelle Bilanz an Schließungen ausschließlich hessischer Einrichtungen veröffentlichte das „Ärzteblatt“. Dabei beruft es sich auf Angaben des Sozialministeriums, das weiter ausholt und Zahlen der vergangenen zweieinhalb Jahre nennt.
Laut Mitteilung aus Wiesbaden machten von Anfang 2021 bis Anfang August dieses Jahres 24 Altenheime, eine Kurzzeitpflegeeinrichtung, zwölf Tagespflegeeinrichtungen und eine betreute Wohngemeinschaft dicht. „Bei 17 der genannten Pflegeeinrichtungen war Insolvenz oder die fehlende Wirtschaftlichkeit der Grund für die Betriebseinstellung“, berichtete das Ministerium.
Die Gründe dafür seien „vielschichtig und teilweise sehr individuell. Dennoch ist uns bewusst, dass der Fachkräftemangel und die derzeitige wirtschaftliche Situation die Einrichtungsbetreiberinnen und -betreiber teilweise vor große Herausforderungen stellt.“
Das „Hauptproblem“ sei der Personalmangel, sagte Alexander Roth, Wirtschaftsberater beim Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) gegenüber der „Tagesschau“. Daher könnten nicht alle Heimplätze belegt werden. Die Einnahmen gingen zurück – bei überwiegend gleichbleibenden Kosten, etwa für Miete oder Verwaltung. Zudem seien die Personalkosten durch die jüngsten Tarifabschlüsse gestiegen. Ebenfalls erhöht hätten sich auch die Energiekosten.
Bedarf nach Betreuung steigt weiter
Roth erwartet weitere Pleiten: „So lange sich an den Rahmenbedingungen nichts ändert, werden vermutlich noch mehr Insolvenzen hinzukommen“, prognostiziert er und kritisiert das enge „Korsett“ für die Heimbetreiber. So könnten sie weder die Preise erhöhen noch verfügten sie über Zuschüsse oder hätten Einfluss auf die Bürokratie.
„Je nachdem, wie viele Faktoren zusammentreffen, kann es für das einzelne Heim dann zu viel sein”, sagt der Wirtschaftsberater. Seiner Erfahrung nach ist das Risiko für alle Trägerschaften und Heimgrößen in etwa gleich: „Es trifft frei-gemeinnützige Einrichtungen und private Ketten, große Häuser ebenso wie kleine.”
Die „fehlende Wirtschaftlichkeit“ betreffe jedoch privat betriebene Heime viel häufiger. 12 von 17 Einrichtungen, die in den vergangenen Jahren aus diesem Grund den Betrieb eingestellt haben, waren in privater Trägerschaft. Eine fatale Entwicklung, findet Roth: „Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, Anbieter zu verlieren. Es gibt schon jetzt zu wenig Heimplätze und der Bedarf steigt.“
Eine Patentlösung habe auch er nicht. Zwar könnte man seiner Ansicht nach an einzelnen Schräubchen drehen, etwa an der Belegungsquote oder den Bearbeitungsfristen für Sozialhilfeanträge.
Manches aber bleibe ohne umfassende Reformen und Bürokratieabbau „unauflösbar”: Jeder wolle, dass das Pflegepersonal gut bezahlt werde, doch verursachten höhere Löhne auch höhere Kosten.
Bleiben die Einnahmen jedoch aus, steige auch das Risiko einer Insolvenz. „Diese Zusammenhänge kommen in der gesellschaftlichen Debatte zu kurz“, betont der Wirtschaftsberater.
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