
„Welt“-Wirtschaftschef: „Inzidenz 35 soll Illusion von Verbindlichkeit erzeugen“
Dass die Festlegung auf 35 als neue Inzidenzzahl für Lockdown-Lockerungen Planungssicherheit für die Betroffenen bedeuten werde, glaubt „Welt“-Ressortleiter Olaf Gersemann nicht. Sie sei eher ein taktischer Schachzug, um den Anschein von Berechenbarkeit zu vermitteln.

Symbolbild.
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In einem Kommentar zum Corona-Beschluss des Bund-Länder-Gipfels am Mittwochabend (10.2.) hat der Ressortleiter Wirtschaft der „Welt“, Olaf Gersemann, Zweifel daran geäußert, dass der neu definierte Inzidenzwert für einen Lockdown-Ausstieg von 35 Fällen je 100.000 Einwohner eine tatsächlich verlässliche Bezugsgröße sein würde.
Regeln inmitten des Spiels geändert
Es sei eher davon auszugehen, dass die Politik mit der Neufestlegung mitten im Spiel eigenmächtig die Regeln geändert habe, als dass sie durch eine höher gelegte Latte einen zusätzlichen Anreiz für umsichtiges Verhalten in Pandemie-Zeiten setzen wollte.
Virologisch sei die Zahl ohne Belang, und es wirke, als habe man angesichts einer Inzidenzzahl, die sich auf 50 zubewege, auf eine willkürliche Weise eine Verlängerung des Lockdowns erzwingen wollen, um nicht in eine durch Mutationen getriebene neue Dynamik hinein öffnen zu müssen.
Möglicherweise wollte man sich auch den harten Wintereinbruch, der die Neigung, das Haus zu verlassen, ohnehin minimiere, nutzbar machen, um noch zwei bis drei Wochen der Beschränkungen dranzuhängen.
Ende Oktober habe man bei einer gegebenen Inzidenzzahl von 94 die Benchmark auf 50 gesetzt – und den Wert damit begründet, dass darüber die Gesundheitsämter nicht mehr in der Lage wären, ausreichend Kontakte nachzuverfolgen.
Wenig spricht für Inzidenz 35
Für die 35 spreche wenig, außer vielleicht, dass die Zahl im Frühjahr des Vorjahres schon einmal als Richtwert genannt gewesen wäre. Die Zeit, die man im Kampf gegen die mutierten Viren gegenüber der 50er Inzidenz gewänne, wäre vernachlässigbar. Andererseits, so Gersemann, hätte sich die Politik dann doch nicht getraut, die 10er Marke als Ziel auszugeben, wie sie der „No Covid“-Fraktion in der Wissenschaftlergemeinde vorschwebe.
Stattdessen hätte man ja auch den Weg gehen können, den Inzidenzwerten qualitative Kriterien hinzuzufügen. Immerhin sei es ja ein Unterschied, ob ein landesweiter Ausbruch die 50er Inzidenz herbeiführe oder ein konzentrierter Cluster in Form zweier Pflegeheime.
Selbstbindung der Politik inmitten beschnittener Grundrechte?
Dass die Politik dieses Vorgehen scheue, sei taktisch bedingt. Man wolle klare Festlegungen für das eigene Handeln, wie etwa Stufenpläne diese ausdrücken würden, vermeiden, aber dem Bedürfnis der Betroffenen nach eben dieser Form der Planbarkeit entgegenkommen. Eine epidemiologisch willkürliche Zahl mache dies möglich:
„Die Regierungschefs tun so, als kämen sie damit der Sehnsucht vieler, vieler Bürger entgegen, auch nur ein Restmaß an Planbarkeit in ihrem aktuellen Lebensjahr zu behalten. Sie bedienen die Sehnsucht nach Verlässlichkeit und die prinzipielle Erwartung, dass auch in Zeiten gröbster Grundrechtsbeschneidungen ein Residuum an politischer Selbstbindung erhalten bleibt.“
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