Analyse
ZentralasienKasachstan: Unruhen vor dem Ende - Informationskrieg geht weiter
Glaubt man den Angaben von Staatschef Tokajew, haben die Sicherheitskräfte und die "Friedenstruppen" der russisch geführten OVKS-Allianz die Lage in Kasachstan wieder weitgehend unter Kontrolle. Um die Deutung der Unruhen tobt jedoch weiter ein Informationskrieg.

Ein Soldat in Almaty, der größten Metropole Kasachstans am 8. Januar 2022.
Foto: ALEXANDR BOGDANOV/AFP via Getty Images
In einem Telefongespräch mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin hat Kasachstans Staatschef Kassym-Jomart Tokajew am Samstag (8.1.) erklärt, die Unruhen in dem zentralasiatischen Land seien weitgehend unter Kontrolle. Dies berichtete die „Tagesschau“. Einzelne bewaffnete Konfrontationen gebe es lediglich noch in Teilen der Metropole Almaty sowie in der ebenfalls im Südosten des Landes gelegenen Stadt Taldykorgan.
Offiziellen Angaben zufolge seien in den vergangenen Tagen mehr als 5.000 Personen festgenommen worden, zudem soll es mehrere Dutzend Todesopfer gegeben haben. Unter den Verhafteten befanden sich den Berichten zufolge auch mehrere hochrangige Beamte aus dem Staatsapparat. Der ehemalige Geheimdienstchef Karim Massimow wird sogar des Hochverrats beschuldigt.
Kasachstan vor endgültigem Ende der Ära Nasarbajew
Temur Umarow vom Moskauer Carnegie Center zufolge, mit dem die bekannte ARD-Nachrichtensendung sprach, habe Tokajew die Unruhen genutzt, um sich von Altpräsident Nursultan Nasarbajew zu emanzipieren, der mithilfe eines eigenen loyalen Netzwerkes immer noch die Fäden im Staatsapparat gezogen haben soll. Nasarbajew hatte das Land von seiner Unabhängigkeit im Jahr 1990 an durchgehend bis 2019 regiert.
Die jüngst im Land aufgeflammten Proteste, die sich ursprünglich gegen hohe Treibstoffpreise gerichtet hatten, wandelten sich schon bald in generelle regierungskritische Unruhen, an denen sich zum Teil auch bewaffnete Gruppen beteiligten. Tokajew war durch Preiskontrollen, eine umfassende Regierungsumbildung und die Veranlassung des Rückzugs Nasarbajews aus dessen verbleibenden Ämtern den Protestierenden entgegengekommen.
Gleichzeitig hatte er jedoch einen Schießbefehl gegen Personen und Gruppen erlassen, die sich in bewaffneter Weise am Aufruhr beteiligten oder durch Plünderungen oder Gewalt gegen Personen und Eigentum in Erscheinung träten.
Exil-Kasachen sehen „Wahhabiten“ hinter bewaffneten Unruhen
Auch wenn die Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie Tokajews und die mit seinem Einverständnis erfolgte Intervention der russisch geführten Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) offenbar Erfolg hatten, wird der Informationskrieg um die Deutung der Ereignisse noch länger andauern.
Nicht zuletzt der Umstand, dass es offenbar Gruppierungen gab, die in der Lage waren, den Sicherheitskräften bewaffneten Widerstand entgegenzubringen, gibt Anlass zu einer Vielzahl an Theorien.
Im österreichischen „exxpress“ vertrat beispielsweise die der Opposition zuzuordnende Exil-Kasachin Aigul Pavel in einem Interview die Auffassung, bei den bewaffneten Elementen handele es sich um „Wahhabiten“, die der Staatsapparat selbst mobilisiert habe, um einen Vorwand für eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste mit russischer Hilfe zu liefern.
Verschwörungserzählungen auf beiden Seiten
Zudem beschuldigt sie die Russische Föderation, über Bots auf Telegram Einfluss zu nehmen und im Interesse der Führung eine Strategie der Spannung zu verfolgen. Pavel zufolge gebe es keinen Bruch zwischen Tokajew und Nasarbajew und dessen Entfernung aus seinen verbliebenen Ämtern sei unwirksam, weil er als Vorsitzender des Sicherheitsrates im Rang über dem Präsidenten stehe.
Gegen die Richtigkeit dieser Einschätzung spricht neben dem Wortlaut der Verfassung der Umstand, dass extreme Auslegungen des Islam in Kasachstan auch im zentralasiatischen Vergleich wenig Rückhalt haben, wie unter anderem Pew-Studien in der Vergangenheit belegt hatten.
Eine Unterstützung radikaler Islamisten durch Saudi-Arabien, wie sie noch in der Zeit des Tschetschenien-Konflikts bedeutsam war, ist zudem insbesondere vor dem Hintergrund des Reformkurses in Riad unter Kronprinz Mohammad bin Salman unwahrscheinlich.
„Nexta“ als Instrument europäischer Einflusspolitik?
Tokajew selbst und die Russische Föderation wiederum wittern hinter den Unruhen einen weiteren westlichen Versuch, mithilfe einer „Farbrevolution“ den eigenen geopolitischen Einflussbereich erweitern zu wollen. Der Auftritt einer obskuren „Kasachischen Befreiungsbefreiung“, die in einem Video den OVKS-Truppen den Krieg erklärt hatte, führte zu Schuldzuweisungen Russlands an die USA und prowestlicher kasachischer Oppositioneller an Russland, jeweils hinter der Gruppierung zu stehen.
Als auffällig betrachten vorwiegend russische Staatsmedien wiederum die Rolle des bereits im Weißrussland-Konflikt in Erscheinung getretenen, maßgeblich von der EU finanzierten Senders „Nexta“. Dieser habe vor Ausbruch der Unruhen nur sporadisch Nachrichten veröffentlicht, wobei es sich meist um Meldungen über die weißrussische Opposition, über den nationalistischen Putin-Gegner Alexej Nawalny und über die Organisation „Memorial“ handelte, die 1:1 das westliche Narrativ abbildeten.
Seit Beginn der Proteste ist „Nexta“ hingegen zu einem bedeutsamen Livesender geworden, der zeitnah exklusive Reportagen zum Kasachstan-Konflikt und damit zusammenhängenden Protestkundgebungen sendet, Demonstranten mit Tipps versorgt und versucht, durch angebliche Augenzeugenberichte über Folter oder Gewalt gegen Oppositionelle die Stimmung anzuheizen.
Für die EU wäre eine Einmischung in Kasachstan mit geringerem Risiko verbunden, als es beispielsweise die Sanktionspolitik gegenüber Belarus ist – insbesondere gibt es keine gemeinsame Grenze, an die Migranten strömen könnten. Andererseits spricht der Schauplatz der heftigsten Proteste gegen eine bedeutsame Rolle der EU. Unruhen im Südosten Kasachstans könnten auch das KP-Regime in China hellhörig werden lassen.
Die chinesische Grenze zur Region Xinjiang verläuft nur etwas mehr als 200 Kilometer von Taldykorgan entfernt. Eine versuchte Einflussnahme könnte diplomatische Verwicklungen herbeiführen, die aus der Perspektive namhafter Entscheidungsträger in Brüssel, Paris oder Berlin nicht als erwünscht erscheinen würden.
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